Viel zu viele Zufälle

Grüne Abgeordnete für Südwest-Untersuchungsausschuss zu NSU-Morden und Behördenversagen

Die rechte Terror-Gruppe NSU bombte und mordete sich jahrelang durch die Republik. Um das Versagen von Polizei und Geheimdiensten ging und geht es in mehreren Untersuchungsausschüssen - nur Baden-Württemberg will keinen einrichten. Das kritisieren zwei grüne Abgeordnete: Dirk Adams aus Erfurt und Daniel Lede Abal aus Tübingen.

von Volker Rekittke

Tübingen. Es könne passieren, dass rechtsradikale Bombenbastler in Thüringen unter den Augen der Polizei abtauchen - und die Zielfahnder finden sie nicht. Oder dass in Sachsen und anderen ostdeutschen Bundesländern 14 brutale Banküberfälle nicht aufgeklärt werden - genauso wenig wie eine bundesweite Mordserie, der acht türkischstämmige und ein griechischer Kleinunternehmer zum Opfer fallen. Schließlich könne es vorkommen, auch wenn das nun schon sehr unwahrscheinlich sei, dass der Mord an einer Polizeibeamtin und der versuchte Mord an ihrem Kollegen über Jahre nicht aufgeklärt werden, sagt Dirk Adams: "Aber alle vier Zufälle zusammen sind vernünftig nicht zu erklären."

Der grüne Abgeordnete beschäftigt sich im Thüringer Landtag seit mehr als zwei Jahren mit dem braunen NSU-Sumpf in seiner Heimat - und mit dem offensichtlichen Versagen der Behörden, vor allem von Polizei und Verfassungsschutz. Am Montagabend kam Adams auf Einladung seines Parteifreundes Daniel Lede Abal, der für die Grünen im Stuttgarter Landtag sitzt, in den Tübinger Club Voltaire. Davor waren beide zu Besuch in der TAGBLATT-Redaktion.

"Ein Eigenleben der Geheimdienste akzeptieren wir nicht mehr." Dirk Adams

Heilbronn, Theresienwiese, 25. April 2007: Die Polizistin Michèle Kiesewetter wird von Unbekannten mit einem gezielten Kopfschuss getötet, ihr Kollege lebensgefährlich verletzt. Kurze Zeit später beobachtet ein Zeuge, wie ein großgewachsener Mann, der von der Hand bis über den Ellbogen blutverschmiert ist, nahe des Tatorts in einen wartenden Audi 80 hechtet, der Fahrer öffnet ihm die Tür, ruft "dawai, dawai" - Russisch für "schnell, schnell". Eine Überprüfung von Handynummern und Funkzellen in dem Gebiet durch Europol in Den Haag ergibt, dass eine oder mehrere Nummern in den Datenbanken der Euro-Polizisten gespeichert sind - im Zusammenhang mit Fällen der organisierten Kriminalität aus Osteuropa. Doch die Polizei geht dieser Spur nicht weiter nach, das fand der Journalist Frank Brunner heraus - veröffentlicht im gerade erschienenen Buch "Geheimsache NSU" im Tübinger Verlag "Klöpfer & Mayer".

Bestätigt ist auch, dass am Tag des Mordes mindestens zwei V-Leute der Heilbronner Polizei in der Nähe des Tatortes waren. Zudem wurden nach Aussagen des überlebenden Polizisten angefertigte Phantombilder nicht veröffentlicht. Es gibt noch viele andere Merkwürdigkeiten im Fall Kiesewetter, etwa die Verbindungen von mindestens drei baden-württembergischen Polizeibeamten zum Ku-Klux-Klan - darunter Kiesewetters damalige Polizeiführer. Oder der plötzliche Tod von zwei wichtigen Zeugen in Sachen NSU und Polizistenmord kurz vor deren Vernehmung - einer stirbt an einer "nicht erkannten Diabetes" (V-Mann "Corelli"), einer begeht angeblich Suizid aus Liebeskummer, was seine Eltern stark bezweifeln. In dem 900-Seiten-Wälzer "Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU" von Stefan Aust und Dirk Laabs heißt es, der Heilbronner Fall sei der vermutlich am schlampigsten und sonderbarsten recherchierte Mordfall an einem Polizisten in der jüngeren deutschen Geschichte.

"Wir werden die Taten des NSU nicht vollständig verstehen, wenn wir nicht aufklären, was in Heilbronn geschehen ist", sagt Adams. Dazu müssten auch die Verbindungen der NSU sowie deren Neonazi-Umfeld zwischen Thüringen und Baden-Württemberg genauer erforscht werden. Adams: "Es spricht viel für einen Untersuchungsausschuss auch in Baden-Württemberg." Anders als eine Enquete-Kommission, wie sie unlängst im Südwest-Landtag beschlossen wurde, kann ein Untersuchungsausschuss auch Zeugen vorladen: "Wer in Thüringen nicht in den Ausschuss kommt, kann durch die Polizei vorgeführt werden - das ist ein scharfes Schwert", sagt Adams.

Auch Daniel Lede Abal macht keinen Hehl daraus, dass er einen Untersuchungsausschuss besser gefunden hätte. Dass es im Südwesten - anders als im Bund, in Thüringen, Sachsen und Bayern - zumindest vorerst keinen NSU-Untersuchungsausschuss geben wird, sei im Landtag "nicht an den Grünen gescheitert", sagt Lede Abal. Sondern am Koalitionspartner SPD - besonders sträubte sich SPD-Innenminister Reinhold Gall - sowie an CDU und FDP. Zugleich glaubt Lede Abal, dass der Ausschuss "früher oder später kommen wird". Es gebe einfach zu viele braune Querverbindungen zwischen Ostdeutschland und Baden-Württemberg. So berichtet die "Ermittlungsgruppe Umfeld" des Landesinnenministeriums von "52 Personen, bei denen ein direkter Kontakt zum Trio beziehungsweise zu den Kontaktpersonen des Trios nachgewiesen ist und bei denen ein Bezug zu Baden-Württemberg besteht".

"Eine Enquete, die darauf angewiesen ist, was sie freiwillig von den Behörden bekommt, ist doch ein stumpfes Schwert", hatte der CDU-Bundestagsabgeordnete Clemens Binninger erst kürzlich bei einer Veranstaltung zum NSU in Stuttgart gesagt. Der Obmann seiner Fraktion im Untersuchungsausschuss des Bundestags bezweifelte, dass es Baden-Württemberg durchhalten könne, als einziges Bundesland keinen Untersuchungsausschuss einzurichten. "Wählen Sie eine Form, die Ihnen auch die nötigen Befugnisse gibt. Zeigen Sie, dass das Parlament die Exekutive kontrolliert und nicht die Exekutive sich selber", so sein Appell mit Blick auf den Bericht der "Ermittlungsgruppe Umfeld" des Landesinnenministeriums.

"Die Parlamente müssen sagen, was sie wollen" - dieser Überzeugung ist auch Adams: "Wir brauchen so viel Aufklärung wie möglich." In Thüringen sei man nach über zwei Jahren Ausschussarbeit nun endlich auf dem Weg, ein neues Verfassungsschutzgesetz zu beschließen.

Das existierende parlamentarische Kontrollgremium des Südwest-Landtags, ergänzt Lede Abal, sei jedenfalls "keine effektive Kontrolle des Verfassungsschutzes". Man wisse nie: "Entscheidet das Innenministerium oder gar der Verfassungsschutz selbst, was dem Gremium vorgelegt wird?" Adams schließlich glaubt, "dass der NSU-Skandal der Beginn davon ist, dass man dem Verfassungsschutz seine Macht entreißt - vielleicht ist das sogar das Ende der Inlandsgeheimdienste".



"Wir brauchen so viel Aufklärung wie möglich." Dirk Adams



Zur Person: Dirk Adams und der NSU-Untersuchungsausschuss

Dirk Adams ist seit 2009 Mitglied des Thüringer Landtags für Bündnis 90/Die Grünen. In der Fraktion ist er Sprecher für Innenpolitik, außerdem Mitglied im Innenausschuss, in der Parlamentarischen Kontrollkommission, die die Geheimdienste kontrollieren soll - sowie im Untersuchungsausschuss des Landtags, der sich mit dem Rechtsterrorismus (nicht nur) des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) sowie dem offensichtlichen Versagen der Behörden befasst. Der Ausschuss arbeitet mittlerweile am Abschlussbericht, obwohl die Fakten- und die Aktenlage noch immer stetig zunehmen - weil am 14. September in Thüringen Landtagswahlen sind.

 

Quelle
Verlag: Schwäbisches Tagblatt GmbH
Publikation: Schwäbisches Tagblatt - Tübingen
Ausgabe: Nr.127
Datum: Mittwoch, den 04. Juni 2014
Seite: Nr.21

zurück

Folge Dirk auf Facebook.

Folge Dirk auf Instagram.

Folge Dirk auf Twitter.

GRUENE.DE News

<![CDATA[Neues]]>